Die Sehrinde (visueller Cortex)

Bei der visuellen Wahrnehmung sind viele Gehirnareale beteiligt. Eine essenzielle Rolle bei der Verarbeitung visueller Reize übernimmt die Sehrinde. Im Folgenden erfahren Sie mehr über den Aufbau, die Funktion und mögliche Erkrankungen der Sehrinde.

Inhaltsverzeichnis

Was ist die Sehrinde?

Die Sehrinde wird fachsprachlich als visueller Cortex bezeichnet, sie ist Teil der Großhirnrinde (Cortex). In diesem Gehirnareal läuft die Verarbeitung der vom Auge aufgenommenen visuellen Reize bis zu der komplexen Darstellung des Gesehenen ab. Es nimmt einen Großteil des sogenannten Occipitallappens ein. Dieser hintere Teil des Gehirns wird auch als visuelles Zentrum bezeichnet. Die essenzielle Bedeutung der Sehrinde im Rahmen der visuellen Wahrnehmung wird unter anderem bei Störungen deutlich. Die Ausfallerscheinungen hängen davon ab, welcher Teil der Sehrinde betroffen ist und können schwerwiegende Folgen haben.

Anatomie der Sehrinde

Der Occipitallappen lässt sich grob in zwei Areale einteilen: primärer visueller Cortex (V1) und visuelle Assoziationscortices (V2 bis V5). Die von der Netzhaut (Retina) aufgenommenen visuellen Reize gelangen als Nervenimpulse über den Thalamus und den Sehstrahl zunächst zum primären visuellen Cortex.

Primärer visueller Cortex: horizontaler und vertikaler Aufbau

Die primäre Sehrinde ist retinotop aufgebaut. Das bedeutet, dass jeder Punkt auf der Retina einem bestimmten Ort auf der primären Sehrinde entspricht. Nachbarschaften auf der Retina bleiben dabei auch im Gehirn erhalten. Der Ort des schärfsten Sehens auf der Retina (Fovea) ist dort zwar nur 1,5 Millimeter groß, nimmt aber vier Fünftel von V1 ein. Dass ein so großer Bereich beansprucht wird, liegt an der besonders hohen Auflösung in der Fovea. Nur so ist eine bestmögliche Verarbeitung des Gesehenen möglich.

Die primäre Sehrinde besteht aus sechs übereinanderliegenden Schichten. Diese unterscheiden sich hinsichtlich ihres Aufbau und ihrer Funktion voneinander, sind aber stark miteinander vernetzt. Die ersten beiden Schichten enthalten relativ große Magno-Zellen, die primär für die Bewegungswahrnehmung zuständig sind. Die anderen vier Schichten enthalten vergleichsweise kleine Parvo-Zellen. Sie steuern über die Darstellung von Farben und Strukturen die Objektwahrnehmung.

Neben dem horizontalen Aufbau in Schichten existiert auch ein vertikaler Aufbau der primären Sehrinde in Säulen. Mehrere Orientierungssäulen bilden eine Augendominanzsäule. Zwei Dominanzsäulen werden wiederum zu einer Hypersäule zusammengefasst. Jede Orientierungssäule reagiert ausschließlich auf eine Linie eines bestimmten Punkt in der Retina. Das System der Linien bildet die Umwelt in Konturen ab. Innerhalb der Augendominanzsäulen befinden sich sogenannte Blobs, die auf Farbreize reagieren.

Physiologie der Sehrinde

Der visuelle Cortex nimmt optische Reize auf und verarbeitet sie schrittweise zu einem Bild der Umwelt. Nach der Aufnahme des Reizes werden Informationen zerlegt, analysiert, abstrahiert und dann in geordneter Form an die nächste Verarbeitungsstufe weitergeleitet:

In der primären Sehrinde bzw. V1 wird die Grundlage für die Verarbeitung visueller Eindrücke geschaffen. Dort wird jeder Punkt des Gesichtsfeldes nach Linien, Bewegungen und Farben durchleuchtet. Gewonnene Informationen werden an die sekundäre Sehrinde (V2 und V3) weitergeleitet.

Die sekundäre Verarbeitung setzt sich über zwei Hauptpfade in die weiteren Areale fort: einen parietalen und einen temporalen Pfad. Während der parietale Verarbeitungsstrom der Bewegungs- und Positionswahrnehmung dient (magnozellulärer „Wo-Strom„), ist der temporale Verarbeitungsstrom für die Wahrnehmung von Farben, Mustern und Formen (parvozellulärer „Was-Strom„) von Bedeutung. Auf beiden Bahnen werden die Verknüpfungen von Farben, Formen und Bewegungen immer komplexer, wobei nicht nur das aktuell gesehene Bild, sondern auch im Gedächtnis gespeicherte Bilder als Grundlage dienen. So kann zum Beispiel zwischen Vertrautem und Unbekanntem unterschieden werden.

Ausfälle der Sehrinde

Ausfälle im visuellen Cortex führen zu Störungen der visuellen Wahrnehmung. Mit welchen Ausfallerscheinungen die Störung einhergeht, hängt davon ab, welche Bereiche der Sehrinde betroffen sind.

Ist der primäre visuelle Cortex betroffen, werden Impulse an der betroffenen Stelle nicht verarbeitet. Infolgedessen kommt es zu Ausfällen im Gesichtsfeld. Betrifft die Beschädigung die gesamte primäre Sehrinde, kommt es zu einer sogenannten Rindenblindheit: Retina und Sehbahn sind zwar intakt, Bildinformationen werden aber nicht weitergeleitet. Die Betroffenen sind vollkommen blind, reagieren aber noch unbewusst auf visuelle Reize, ohne diese bewusst wahrzunehmen. Sie sind beispielsweise dazu in der Lage, Objekte zu greifen oder zu benennen.

Ausfälle der sekundären Sehrinde gehen nicht mit Gesichtsfeldausfällen einher. Betroffene sind jedoch nicht mehr in der Lage, das Gesehene zu erkennen oder einzuordnen. Die als visuelle Agnosie bezeichnete Beeinträchtigung kann Farben, Formen oder Gesichter betreffen. Auch Halluzinationen lassen sich auf Störungen der sekundären Sehrinde zurückführen.

Quellen

Andreas Berke: Biologie des Auges. Mainz: WVAO, 1999 (2. Auflage).

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