Bewegungswahrnehmung: Funktionen und Ablauf
Das Bewegungssehen prägt unseren Alltag und hat bereits unsere Vorfahren vor Gefahren beschützt. Aber wie genau funktioniert die Bewegungswahrnehmung eigentlich? Warum ruft eine bloße Augenbewegung keinen Bewegungseindruck hervor? Im Folgenden erfahren Sie, wie die Bewegungswahrnehmung zustande kommt und warum sie für den Menschen so relevant ist.
Inhaltsverzeichnis
Was bedeutet Bewegungswahrnehmung?
Unter Bewegungswahrnehmung ist die Fähigkeit zu verstehen, Bewegungen visuell zu erfassen. Letztendlich besteht unser gesamter Alltag aus Bewegungen: Zum einen verändern Menschen und Objekte in unserer Umgebung ständig ihre Position, wie es zum Beispiel bei Spaziergängern, fahrenden Autos oder fliegenden Vögeln der Fall ist. Aber auch wir selbst sind permanent in Bewegung und erkunden auf diese Weise unsere Umwelt.
Unterschieden werden Bewegungen in zwei Arten:
- Reale Bewegungen: Bei realen Bewegungen handelt es sich um tatsächlich stattfindende Bewegungen, wie beispielsweise ein vorbeifliegender Ball im Tennisspiel.
- Scheinbewegung: Wie der Begriff bereits vermuten lässt, verändern Objekte im Rahmen einer Scheinbewegung ihre Position nicht. Man denke nur an die Figuren eines Daumenkinos. Diese bewegen sich selbstverständlich nicht tatsächlich über das Papier. Der Eindruck entsteht durch die schnelle Aneinanderreihung verschiedener Bilder, die wir als fließend wahrnehmen.
Wie läuft die Bewegungswahrnehmung ab?
Bei der Bewegungswahrnehmung ist eine engmaschige Zusammenarbeit verschiedenster Strukturen – von der Retina über die Nervenzellen bis hin zu verschiedenen Gehirnarealen – notwendig, damit sie Schritt für Schritt über die Augen ins Gehirn gelangt.
1. Schritt: Einleitung der Verarbeitung durch die Retina
Der Ausgangspunkt der Bewegungswahrnehmung ist die Retina (Netzhaut), ein Nervengewebe, das einen Teil des Auges bedeckt. In der Retina befinden sich die sogenannten retinalen Fotorezeptoren. Bei Fotorezeptoren handelt es sich um die Sinneszellen des Auges. Manchmal werden sie auch „Sehzellen“ genannt. Fotorezeptoren sind dazu in der Lage, das einfallende Licht in elektrische Signale umzuwandeln. So übersetzen sie die entsprechenden Informationen und machen diese für weitere körperliche Strukturen lesbar.
Voraussetzung für die Wahrnehmung einer Bewegung ist die aufeinanderfolgende Stimulation mehrerer Rezeptoren. In diesem Fall liegt eine sogenannte „retinale Bildverschiebung“ vor. Kurios: Auch eine Augenbewegung sorgt für eine Bildverschiebung auf der Retina – und müsste entsprechend einen Bewegungseindruck hervorrufen. Das ist aber nicht der Fall. Wissenschaftler vermuten daher, dass die elektrischen Signale der Augenmuskeln im Sehhirn mit den Netzhaut-Signalen verrechnet werden.
2. Schritt: Weiterleitung der Informationen durch Ganglienzellen
Die elektrischen Signale gelangen in Verarbeitungskanäle, welche die Informationen weg von den äußeren Schichten der Retina und hin zu den inneren Schichten tragen. Im weiteren Verlauf übernehmen Ganglienzellen (Nervenzellen) die ausstehende Verarbeitung. Wie alle Neuronen verfügen sie über Axone (Nervenzellfortsätze). Über diese sind Nervenzellen miteinander verbunden und tauschen Signale untereinander aus. Die Axone der Ganglienzellen bilden den optischen Nerv, der wiederum die Retina mit den visuellen Zentren des Gehirns verbindet. Bewegungsinformationen, die den optischen Nerv passieren, landen somit im Gehirn, genauer gesagt im Corpus geniculatum laterale und später im Gehirnareal V1 (der primären Sehrinde). V1 steht dabei für Visual area one.
3. Schritt: Erfassung der Bewegungsrichtung im Gehirn
Das Gehirnareal V1 zeichnet sich durch eine hohe Dichte von „komplexen Zellen“ aus. Komplexe Zellen sind darauf spezialisiert, richtungsspezifische Reize zu erfassen. Allerdings erkennen die jeweiligen Zellen immer nur eine bestimmte Reizrichtung. Einige der Nervenzellen sind zum Beispiel dazu in der Lage, Reize wahrzunehmen, die sich von rechts oben nach links unten bewegen, andere hingegen reagieren bei einer solchen richtungsspezifischen Bewegung nicht. Die Zellen bevorzugen allerdings unterschiedliche Richtungen, sodass letztendlich sämtliche Bewegungsabläufe abgedeckt sind.
Nachdem die Signale das Gehirnareal V1 passiert haben, gelangen sie zum mediotemporalen Cortex (V5). Hier befindet sich die sogenannte Wo-Bahn. Diese gehört zur visuellen Verarbeitungsbahn und ist dafür zuständig, die Bewegung und Lokalisation von Objekten zu erfassen.
4. Schritt: Zuhilfenahme des Hör- und Tastsinns
Für eine korrekte Interpretation der Wahrnehmung greift das Gehirn auf Informationen zurück, die andere Sinnesorgane (Tast- und Hörsinn) zur Verfügung stellen. Auf diese Weise kann das Gehirn entscheiden, ob Sie selbst sich bewegen oder ob ein Objekt in Ihrer Umgebung seine Position verändert.
5. Schritt: Abgleichung mit Erfahrungen
Die Bewegungswahrnehmung wird durch alltägliche Lernprozesse geprägt. Immerhin lehren uns Erfahrungen die Bewegungsunfähigkeit von Bäumen und Häusern. Wenn Sie „verschwindende“ Pflanzen wahrnehmen, ist dementsprechend von einer Eigenbewegung auszugehen.
Warum ist die Bewegungswahrnehmung wichtig?
Ob Sie sich einen Film anschauen oder die Natur beobachten – die Wahrnehmung von Bewegung gestaltet Ihren Alltag. Auch darüber hinaus übernimmt das Bewegungssehen wichtige Aufgaben:
- Gefahren wahrnehmen: Bewegte Objekte können unter Umständen auch eine Gefahr darstellen, wie es zum Beispiel bei fahrenden Autos der Fall ist. Durch das Erkennen einer Bewegung können Menschen potenziellen Gefahren ausweichen.
- Umwelt erkennen: Wir stehen mit unserer Umwelt in ständiger Interaktion. Die Bewegungswahrnehmung erleichtert dabei viele Prozesse, unter anderem auch in der zwischenmenschlichen Kommunikation, indem beispielsweise die Gestik des Gesprächspartners wahrgenommen wird.
- Dreidimensional sehen: Durch die Bewegungswahrnehmung ist es Menschen möglich, räumliche Tiefen zu erkennen.
- Objekte erfassen: Sobald Objekte sich bewegen, sind sie deutlicher von ihrem Hintergrund zu unterscheiden.
Ausgehend von einer Bildverschiebung auf der Retina durchlaufen elektrische Signale verschiedene Gehirnareale, bis sie schließlich als gerichtete Bewegung wahrgenommen werden können. Für eine Erfassung von Bewegungen arbeiten Gehirn, Augen, Hör- und Tastsinn eng zusammen. Gemeinsam gewährleisten sie, dass Sie Gefahren rechtzeitig erkennen und vermeiden sowie mit Ihrer Umwelt interagieren können.